Doch in Tiefenstein ist manches anders.
Der Mann, der am Spielfeldrand lautstark
klatscht und seinen Spielern mit klaren
Anweisungen beisteht, ist Ibrahim Nas-
sar. Er stammt aus Syrien, kam 2015 als
Geflüchteter nach Deutschland – und hat
eine bewegende Geschichte im Gepäck.
Die ohnehin schon schwierige und stra-
paziöse Flucht war für ihn besonders
anspruchsvoll, denn der Syrer ist aufgrund
einer Behinderung seit seiner Kindheit auf
Krücken angewiesen. Bereits in seiner
Heimat hielt ihn das aber nicht davon ab,
selbst erfolgreich Rollstuhl-Tischtennis zu
spielen und die Nationalmannschaft für
Sportler
*innen mit geistiger oder körper-
licher Behinderung zu trainieren.
Neustart mit Nachwuchsarbeit
„Über Bekannte, die mich als Tischten-
nisspieler kannten, bin ich dann auf den
TuS Tiefenstein aufmerksam geworden“,
erzählt er von seinen ersten Schritten in
die deutsche Sportlandschaft. Dort traf
er auf Simone Kunz, die erst kurz zuvor die
Leitung der Tischtennisabteilung über-
nommen hatte. Aus dieser Begegnung
entstand eine enge Zusammenarbeit –
und eine Erfolgsgeschichte von sport-
licher und menschlicher Integration.
„Als wir 2017 angefangen haben, gab
es keine Nachwuchsarbeit mehr. Also
haben wir intensiv Werbung in den Schu-
len betrieben und Minimeisterschaften
organisiert“, beschreibt Kunz ihre ersten
Sofortmaßnahmen als Abteilungsleite-
rin. Und diese zahlen sich heute aus: die
ersten Neueinsteiger von damals sind
heute fester Bestandteil der Erwachse-
nenmannschaften. „Dieses Jahr haben
wir vier Erwachsenenteams – so viele wie
noch nie“, berichtet Kunz stolz. Und auch
der sportliche Erfolg kann sich sehen las-
sen: Die erste Jugend-Mannschaft spielt
in der zweithöchsten Klasse des Verban-
des und auch die anderen Jugendmann-
schaften spielen sehr erfolgreich.
Diese positive Entwicklung ist auch fest
mit Ibrahim Nassar verknüpft. Auch wenn
der Start gar nicht so leicht war, wie sich
Kunz erinnert: „Wir haben auf die Schnelle
irgendwie einen Rollstuhl für ihn orga-
nisiert. Auch wenn der sich nicht richtig
drehte, hat es zum Spielen gereicht.“ Bald
stieg er neben den Eheleuten Kunz ins
Nachwuchstraining ein. Und die Kinder
hat der 43-Jährige voll im Griff. Anfangs
vielleicht sogar ein bisschen zu sehr:
„Ibrahim ist sehr ehrgeizig. Beim Coachen
wurde es manchmal etwas lauter. Nach-
dem es da ein paar Beschwerden gab,
hat er sich das inzwischen abgewöhnt“,
lacht Kunz, für die Fairness beim Sport an
erster Stelle steht. Die Kinder mögen ihren
Trainer trotzdem – und für sie ist es völlig
nebensächlich, ob er dabei im Rollstuhl
sitzt oder aus Syrien stammt.
Integration als Selbstverständlichkeit
Beim bunten Treiben in der Stadenhalle
fällt ohnehin nicht auf, dass rund die
Hälfte der Kinder einen Migrationshin-
tergrund hat. Die Gruppe ist vielfältig, die
Herkunft spielt keine Rolle. „Integration
geht nur über Gespräche“, erläutert Kunz
ihren Ansatz. Und gerade dabei ist Nas-
sar für viele Familien ein entscheidender
Schlüssel. Er spricht Arabisch, kann so
sprachliche und kulturelle Hürden über-
winden. „Vielleicht nehmen sich die Leute
meine Integrationsgeschichte auch als
Vorbild“, sagt er bescheiden. Hilfreich
ist, dass Tischtennis ein sehr integrati-
ver Sport ist, wie Kunz erklärt: „Hier kann
jeder gegen jeden spielen, unabhängig
von Alter, Geschlecht, Herkunft oder
Behinderung.“ Auch beruflich lebt Nas-
ser dieses Prinzip: Er arbeitet inzwischen
halbtags als Integrationshelfer.
Dass Nasser beim Training und im All-
tag weiterhin auf Unterstützung ange-
wiesen ist, ist für die Tischtennisfamilie
in Tiefenstein kein Hindernis. „Es muss
immer jemand da sein zum Helfen, allein
schon zum Aufbauen der Platten und
des Equipments“, weiß die 62-jährige
Kinderkrankenschwester. Auch außer-
halb der Sporthalle unterstützen ihn die
Vereinsmitglieder, wo sie nur können:
Simone Kunz und ihr Mann halfen beim
Einrichten seiner Wohnung, ein Fernseh-
techniker aus der Leichtathletik-Abteilung
schloss die Satellitenanlage an und der
Fahrlehrer der Tischtennisfamilie gab ihm
Privatstunden für die Führerschein-Prü-
fung – Nassars syrischer Führerschein
wurde in Deutschland nicht anerkannt.
„Für ihn geht es nie alleine. Aber der ganze
Verein hilft gerne mit“, beschreibt Kunz
die Gemeinschaft.
So ist der TuS Tiefenstein für Nassar
längst zu einer zweiten Familie geworden
und es verwundert nicht, dass er voll ins
Vereinsleben integriert ist. Er packt selbst
mit an, wo immer es nötig ist. „Ob auf dem
Platz oder hinter der Theke – auf Ibrahim
ist immer Verlass“, freut sich Simone Kunz.
TOPTHEMA
29